Heute steht uns die von den Kilometern her kürzeste Etappe bevor, allerdings die mit den meisten Höhenmetern. Erst geht es aber einmal kurvig bergab, bis wir nach etwa fünf Kilometern Puli erreichen. Wir frühstücken sehr gut und ausgiebig in Palatschinken-ähnliche Teigrollen gewickelte Omeletts und decken uns in einem 7eleven Markt mit etwas Proviant für den bevorstehenden Anstieg ein.
Plötzlich steht ein Radfahrer neben uns, sein Velo ist für ein Rennrad ziemlich voll bepackt, bei weitem nicht so wie unsere Reiseräder, aber offensichtlich ist er auch ein Fernfahrer. Wir kommen ins Gespräch – sein Name ist Chang und er kommt aus Hongkong. Als wir ihm sagen, dass wir auch über den großen Berg möchten, fragt er erfreut „May I join you?“. Wir sagen natürlich ja, schicken aber gleich voraus, dass wir es sehr gemütlich angehen und deuten auf unsere völlig ungleich schweren Räder. Als wir ihm dann auch sagen, dass wir die 3.000 Höhenmeter nicht heute sondern aufgeteilt heute und morgen fahren möchten, ist sein Wunsch mit uns zu fahren auch schon wieder dahin. Er hat nämlich vor, die ganze Strecke über den Hehuanshan, durch die Taroko-Schlucht bis nach Hualien an der Ost-Küste an einem Tag zu fahren. Wir wünschen ihm gutes Gelingen und viel Spaß.
Ab Puli geht es stetig bergauf, die ersten 15 Kilometer relativ flach, bis erste steile Serpentinen durch eine felsige Schlucht folgen. Die Sonne scheint, kein Wind weht und der Schweiß rinnt in Strömen. Wir müssen durch zahlreiche kürzere Tunnels, was auf Grund des hohen Verkehrsaufkommens mit den vielen LKWs und Bussen besonders mühsam ist. In einem Tunnel überholt uns ein alter tuckender LKW und schaltet genau auf unserer Höhe, worauf sich eine unmenschliche Rauchwolke aus dem Auspuff genau in unser Gesicht entlädt. Wir husten, leiden und schaffen es kaum zum Ende des Tunnels. Wir sind uns sicher: diese Überdosis muss in etwa den gleichen gesundheitlichen Schaden haben, wie ein ganzes Jahr lang täglich drei Packerl Zigaretten rauchen. Noch lange spüren wir den teerigen Qualm in unseren Lungen – Radfahren muss nicht immer gesund sein.
In Wushe (Ren-ai) legen wir auf ca. 1.000 Meter Seehöhe eine erste Pause ein. Wir kaufen uns gefüllte Dampfgarbrötchen und eine Flasche Iso-Sportgetränk. Als wir auf einem Bankerl im Zentrum der kleinen Ortschaft sitzen, sehen wir plötzlich Chang, der gerade Verpflegung in seine Taschen packt und sich flott auf sein Rad schwingt. Wir winken uns gegenseitig mit hochgestrecktem Daumen zu – spätestens jetzt zweifeln wir stark daran, dass er es noch heute bis Hualien schaffen wird.
Die nächsten 1.000 Höhenmeter bringen nicht viel Abwechslung. Der Verkehr ist nach wie vor sehr dicht, kein Wunder, ist doch der Hehuanshan-Pass die einzige Möglichkeit die Insel im Inneren über die zentrale Gebirgskette zu queren und von der West- an die Ostküste zu gelangen. Dazu kommen die unzähligen Reisebusse, da die Strecke über den Hehuanshan in die Taroko-Schlucht neben dem Sun Moon Lake offenbar die zweite große Touristen-Attraktion der Gegend ist. Wir sehnen uns bereits etwas an die einsamen, schmalen Straßen der ersten Tage zurück und auch an die landschaftlichen und kulturellen Reize – spätestens als wir das Europe Village erreichen, in dem über Kilometer hinweg alle Häuser und Hotels nach europäischem Vorbild konstruiert wurden. Für viele Taiwaner ein beliebtes Fotomotiv, für uns natürlich genau das Gegenteil von dem, was wir hier suchen.
Auf ca. 1.800m Seehöhe essen wir nochmals in einem kleinen Straßenlokal und füllen uns auch gleich den Kochtopf für unser Abendessen. Danach kurbeln wir noch bis 2.300m weiter und fragen um etwa 16.00 Uhr in Cuifeng bei der Police Station nach einer Schlafmöglichkeit. Zuerst heißt es, dass es hier nichts zum Übernachten gäbe und wir zum nächsten Hostel 21km weiter sollen (hinter dem Pass gelegen). In Anbetracht, dass es etwa nur noch eine Stunde hell sein wird, scheint dieser Vorschlag aber auch dem Police Officer etwas absurd und schließlich willigt er ein, uns auf der Rückseite der Police Station zelten zu lassen. Die Fläche ist alles andere als romantisch, aber wir sind froh, dass wir ein „offizielles“ Platzerl bekommen haben. Wir dürfen auch Waschbecken und Toiletten in der Police Station benutzen, was einerseits sehr angenehm ist, andererseits hygienisch betrachtet für unsere bisherigen Erfahrungen in Taiwan unterdurchschnittlich lecker.
Mit Stirnlampe am Kopf löffeln wir auf Stufen sitzend unser Abendessen und freuen uns schon richtig auf den nächsten Tag mit der Überfahrt an die Ostküste. Wir denken auch an Chang und stellen uns die Frage, ob er den Husarenritt bis Hualien geschafft hat oder ob es morgen nochmals ein Wiedersehen geben wird.