Heute klingelt unser Wecker bereits um 4.00 Uhr morgens, da wir so früh wie möglich Richtung Passhöhe aufbrechen möchten, vor allem um den Buskarawanen voraus zu sein.
Belohnt werden wir mit einem bombastischen Morgenrot über der zentralen Gebirgskette, deren scharfen Konturen sich ein paar Kilometer östlich von uns vor wolkenlosem Himmel präsentieren.
Die ersten Kilometer bergauf treten wir etwas müde und langsam, irgendwie wollen wir nicht so recht warm werden. Auch das Wissen, dass es heute bis zum ersten warmen Getränk deutlich länger als sonst dauern wird, dämpft ein wenig unseren Enthusiasmus. Dennoch kurbeln wir Kilometer für Kilometer empor Richtung Hehuanshan.
Als uns die ersten Sonnenstrahlen im Gesicht kitzeln, schlägt unsere Stimmung schlagartig um. Vielleicht sind es aber auch die getrockneten Mangoscheiben, die wir nach etwa einer Stunde Fahrt hungrig in uns hinein stopfen.
An einem Parkplatz sehen wir überraschend ein paar Menschen hinter Verkaufsständen – ein kurzer Hoffnungsschimmer, aber unsere Frage nach Tee oder Café wird mit einem Fingerzeig auf die Uhr verneint. Wir wollen hier natürlich nicht warten und nehmen nur einen kräftigen Schluck Wasser aus unseren Flaschen.
Nach ca. 600 Höhenmetern sehen wir ein paar Serpentinen vor uns und wir spüren richtig, dass wir die Passhöhe sehen werden, sobald wir die oberste Kurve erreicht haben werden. Wenig später ist es dann auch so – es fehlt uns nur noch der Schluss-Anstieg, eine längere Hangquerung in nordöstlicher Richtung.
Mittlerweile haben wir eine Höhe erreicht, in der so gut wie keine Bäume mehr wachsen. Die Vegetation erinnert erstmals an heimische Bergwelten. Wir hätten vorher nicht geglaubt, dass Bambus bis weit über 2.500m Seehöhe gedeiht. Erst über 3.000m Höhe kommt ein Hauch von alpinem Flair auf, der in krassem Gegensatz zu den tropischen Wäldern und dichten Metropolen im Tiefland der Insel steht. Nur die bunten Reisebusse, die es mittlerweile auch von unten herauf geschafft haben, erinnern daran, dass wir mitten in Taiwan, dem zweit dichtest besiedelten Land weltweit sind.
Auf der Passhöhe in 3.275m herrscht bereits um 8.30 Uhr morgens ein reges Treiben. Womit wir nicht gerechnet haben: hier oben sind wir plötzlich die Stars. Jede und jeder möchte gerne ein Foto von sich zusammen mit uns haben. Handys und Kameras werden im Kreis gereicht und alle paar Sekunden heißt es lächeln und posen – am besten den Kopf leicht schräg halten und die Daumen in die Höhe strecken oder einfach das gute alte Victory-Zeichen bilden. Hana hat erst etwas weiter unten die prima Idee, auch unseren Fotoapparat in der Runde weiter zu reichen, damit auch wir ein Gruppenbild mit nach Hause nehmen können. Eine ältere Dame erzählt uns stolz in bestem Englisch, dass ihr Sohn auch Radfahrer ist und mit dem Rad schon einmal hier oben war. Sie möchte ganz genau wissen, woher wir kommen und wohin es weiter geht. Es ist plötzlich gar nicht leicht für uns diesem Trubel zu entkommen. Einerseits genießen wir die Bewunderungen und das rege Interesse an unserer Reise, andererseits zieht es uns weiter im Wissen, dass die Ostküste noch fern ist und der Weg dorthin keinesfalls nur bergab führen wird.
Auf 3.158m Seehöhe stoppen wir bei einem Café-Restaurant mit dem bezeichnenden Namen 3158 Café – endlich gibt es einen wärmenden Tee, mit viel Zucker schmeckt und stärkt er uns hier oben besonders gut. Zum Essen gönnen wir uns vorerst nichts, da die Preise ü 3000 wie bei uns verständlicher Weise eher geschmalzen sind. Beim nachfolgenden Foto-Shooting zücken diesmal auch wir unsere Kamera.
Die Abfahrt Richtung Taroko-Schlucht ist richtig spektakulär. Mal geht es durch kurze einspurige Tunnels, mal im Nebel dicht an die Felswand gepresst mit dem Blick rechts hinunter ins Nirwana. Ab und zu sieht man auch unsere Straße weit voraus einige hundert Höhenmeter tiefer.
Plötzlich fahren wir auf eine Kolonne stehender Autos auf. Wir rollen an ihnen vorbei und kommen nach einigen Metern an den Beginn des Staus, an dem sich schon eine Gruppe von Mountainbikern sowie einige Mopeds angesammelt haben. Die Straße ist aufgrund von Bauarbeiten gesperrt. Niemand weiß so recht wann es weiter geht, aber wir haben Glück und ca. 10 Minuten später heißt es „Go!“. Was jetzt folgt ist ein kleines Wettrennen zwischen uns und den Mountainbikern. Als der Guide merkt, dass wir ihm auf den Versen sind, erhöht er Tempo und Eleganz seiner Kurventechnik. Wir geben natürlich auch unser bestes und bleiben dicht an ihm dran, alle anderen Fahrer haben wir bereits hinter uns gelassen. Als ich gerade ein Überholmanöver überlege, bremst der Guide herunter und biegt rechts zu einem Restaurant ab.
Auch wir halten etwas später an, als wir in einer kleinen Straßenbude Menschen bei Tischen sitzen sehen. Wir treten ein, werden freundlich an einen Tisch gewunken und bekommen bald darauf gedünstetes Weißkraut mit Reis und einem deftigen Omelett – geschmacklich kein Highlight aber in dem Moment einfach nur herrlich.
Nach dem Essen geht es weiter steil abwärts Richtung Tienhsiang, dem Besucher-Zentrum der Taroko-Schlucht. Hier füllen wir unseren Kochtopf fürs Abendessen und kaufen Proviant, als wir plötzlich unseren Kollegen Chang auf uns zukommen sehen. Er gratuliert uns herzlich zur bewältigten Passüberquerung und meint nur, dass er den Berg mit unseren schweren Rädern nicht hätte fahren wollen. Er selbst ist gestern zwar noch über den Pass gekommen, auf der Abfahrt wurde es dann aber bald stockfinster. Bei der Polizeistation auf 2.400m hat er bezüglich einer Schlafmöglichkeit angefragt und man hat ihn dann mit dem Auto zu einer Unterkunft gebracht. Wir knipsen schnell ein gemeinsames Foto und wünschen uns beim Verabschieden gegenseitig weiterhin eine gute Reise.
Kurz darauf kommt es zur nächsten netten Begegnung: Yvona und Jan, ein tschechisches Radreisepärchen steht plötzlich neben uns. Die Freude ist riesig als sie merken, dass Hana ihre Sprache spricht. Wir plauschen ein Weilchen und sind uns relativ sicher, dass wir uns wieder treffen werden, nachdem wir fortan dieselbe Route in den Süden geplant haben. Bisher sind sie von Taipeh aus in den Norden und dann die Ostküste entlang geradelt, was ursprünglich auch unser Plan war. Wir erfahren von den beiden, dass sie bisher fast nur Regen hatten und wir beglückwünschen uns innerlich nochmals zu unserer Entscheidung der spontanen Routen-Planänderung.
Yvona und Jan überlegen noch, ob sie eine Nacht in Tienhsiang bleiben sollen. Uns zieht es auf jeden Fall weiter, da wir uns an diesem Touristen-Hotspot wieder einmal so gar nicht wohlfühlen.
20 Kilometer nach Tienhsiang endet die schluchtige Bergwelt abrupt und vor uns liegt die weite, flache Küstenlandschaft nördlich von Hualien. Wir fahren nur einen Kilometer auf der Küstenstraße Nr. 9, da wir am GPS Richtung Meer einige schmale Strandzufahrten ausfindig machen. Also biegen wir eine schmale Seitenstraße links ab und kommen so zu einer Parallelstraße der 9er die noch dichter am Meer entlang führt, das zwar noch durch ein paar Baumreihen versteckt bleibt, zu dem aber immer wieder schmale Pisten abzweigen, die offenbar als Zufahrtswege für Fischer dienen. Wir testen eine an und stehen bald darauf vor einem unglaublich langgezogenen und breiten Sandstrand, auf dem nur alle paar hundert Meter Menschen mit Angelruten zu sehen sind. Dennoch suchen wir Sichtschutz im strandnahen Wäldchen und schieben unsere Räder ein paar Meter durch den tiefen Sand. An einer schönen baumfreien Stelle lassen wir uns nieder und rammen seit langem wieder einmal unsere extralangen Felsnägel in den sandigen Boden. „Heute werden wir richtig weich liegen“, ist unser erster Gedanke, glücklich in unmittelbarer Nähe zur riesigen Stadt Hualien einen derart naturnahen, wunderbaren Zeltplatz gefunden zu haben. Wir schlendern zum Meer und spazieren barfuß am wohligen Wasserrand. Als es dunkel ist, waschen wir uns im Meer und essen wenig später auf einem kleinen Felsen sitzend mit Blick auf die Lichterketten entlang der ausgedehnten Küste. Wir sind durchaus froh und stolz, die kräftezehrenden Bergetappen so gut bewältigt zu haben und schlafen mit dem wohltuenden Gedanken ein, dass es die kommenden Tage großteils flach und wesentlich entspannter dahin gehen wird.